Sinn-volle Markenkraft

Olaf Hartmann, Geschäftsführer Multisense Institut für sensorisches Marketing, spricht im Interview über sinnliche optimierte Verpackungen, die tiefe Verankerung von Emotionen und warum das digitale Heilsversprechen langsam Risse bekommt.

Was ist multisensorisches Marketing?
Hartmann: Multisensorisches Marketing bedeutet, alle für die Marke und den Verkauf relevanten direkten und indirekten sensorischen Signale gezielt zu gestalten, um die Qualitätswahrnehmung von Produkten und die Effektivität von Kommunikation und Verkauf zu steigern. Warum sollte man das tun? Ganz einfach: Weil es gehirngerechter und damit erfolgreicher ist. Mit jedem zusätzlichen Sinn, den ich zur Vermittlung meiner Botschaft nutze, erhöht sich die Gehirnaktivität im Kopf um 1.000 Prozent. Multisensorische Signalmuster werden schneller wahrgenommen, leichter wiedererkannt, erzeugen höhere Glaubwürdigkeit und generieren mehr Wertschätzung.

Außerdem hat Paul Watzlawik uns aufgezeigt, dass wir nicht, nicht kommunizieren können. In diesem Sinne sendet auch die Abwesenheit sensorischer Signale eine Botschaft. Deshalb ist die Kontrolle oder die Reduktion sensorischer Reize Teil des multisensorischen Marketings. Die Stille im Innenraum eines Autos während der Fahrt gibt uns ein beispielsweise ein Gefühl von Qualität und Sicherheit.

Auch einzelne sensorische Signale, wie der Klang des Bisses in einen knackigen Apfel, der Duft von Sonnenmilch oder das Bild eines flauschigen Kükens, erzeugen multisensorische Assoziationen und aktivieren damit verbundene mentale Konzepte. In diesem Sinne, können wir frei nach Watzlawik sagen: Man kann nicht, nicht multisensorisch kommunizieren. Alle Marken tun es. Nur steuern viele ihre sensorischen Signale nicht gezielt. Das führt dazu, dass viel Werbewirkung verschenkt wird und Markenkraft verloren geht.

Internationale Studien zeigen, dass multisensorische Marken die doppelte Kundenloyalität genießen im Vergleich zu Marken, die nur optisch erkennbar sind. Vierundsiebzig Prozent aller multisensorischen Marken sind Powerbrands. Insofern ist multisensorisches Marketing ein Synonym für erfolgreicheres Marketing.

Welche multisensorischen Marketingmaßnahmen sind besonders sinnvoll?
Hartmann: Sensorisch optimierte Verpackungen erzeugen mehr Aufmerksamkeit am PoS und mehr Preisbereitschaft an der Kasse. Sensorisch optimierte Anzeigen, TV Spots oder Print-Mailings erzeugen mehr Emotion, bleiben besser in Erinnerung und sind responsestärker. Multisensorisch ausgestaltete Verkaufsprozesse, auch für intangible Produkte wie Finanzdienstleistungen, sind erfolgreicher. Man kann also gar nicht sagen, welche Maßnahmen am sinnvollsten sind. Sinnvoll ist es an allen Touchpoints – solange man es richtig angeht.

Wie geht man multisensorisches Marketing denn „richtig“ an?

Hartmann: Richtig heißt, zu erkennen, dass „viel“ nicht automatisch viel mehr Wirkung liefert. Es geht nicht darum, dass immer alles klingeln, duften oder sich besonders anfühlen muss. Teilweise braucht es nur sehr wenig, aber an der richtigen Stelle.

Dabei gibt es zwei Betrachtungsdimensionen: die taktische und die strategische. Die taktische Dimension ist die, durch sensorisch optimierte Touchpoints qualitative Effekte zu erzielen wie höheres Qualitätsgefühl, schnellere Wahrnehmung, tiefere Verankerung von Botschaften, mehr Glaubwürdigkeit oder höhere Aktivierung. Die strategische Dimension beschäftigt sich mit der Frage: Kann ich ein wiedererkennbares sensorisches Signalmuster langfristig mit meiner Marke verknüpfen, wie Toblerone beispielsweise eine Verpackungsform hat, die man auch im Dunkeln in Bruchteilen von Sekunden erkennt. Das Soundlogo der deutschen Telekom, der Duft von Singapore Airlines oder der rote Knopf des Vitamin-B12-Präparats „Vitasprint“ von Pfizer sind Beispiele von wiedererkennbaren Codes, die mit dem Markenversprechen fest verknüpft sind und die Marken im Wettbewerb differenzieren. Diese sensorische Markencodes zahlen auf relevante funktionale Ziele und psychologisch-emotionale Belohnungen ein. Singapore Airlines duftet nach Entspannung und asiatischer Gastfreundlichkeit, der Sound der Telekom klingt nach technischer Kompetenz und Verbindung, die Toblerone-Verpackung verweist auf die Schweizer Herkunft und dem damit verbundenen Qualitätsanspruch; der rote Knopf von Vitasprint transportiert haptisch das Markenversprechen „Energie auf Knopfdruck“.

Wenn alle Sinne bewusst angesprochen werden sollten, dann wiederspricht der Digitalhype doch dem Grundgedanken des multisensorischen Marketings. Haptische Reize fehlen dort zum Beispiel.

Hartmann: Ja, ganz richtig. Aus der sensorischen Perspektive ist Digital ein reduzierter Kanal. Er eignet es sich grundsätzlich deshalb weniger gut für die tiefe Verarbeitung von Botschaften. Aktuelle Studien zum digitalen Lesen bestätigen genau das. Menschen können sich Informationen schlechter merken, wenn sie sie auf einem Bildschirm lesen statt auf Papier. Headline, Subheadline und die Hälfte des ersten Paragraphen – Skim-Reading ist im digitalen Raum normal. Einige Leseexperten sprechen auch vom „Twitter-Gehirn“. Diese Art der Informationsverarbeitung hat auch Auswirkungen auf die Wahrnehmung von Markenbotschaften.

Die Attraktivität des digitalen Kanals ist aber aus psychologischer Perspektive gut erklärbar. Er bedient beispielsweise unseren Jagdtrieb beim Shoppen und unser Bedürfnis nach Zugehörigkeit durch soziale Medien. Gleichzeitig färbt der Kanal aber auch die Botschaft. Marshall McLuhan brachte das mit „The Medium is the message“ zum Ausdruck. Das ist keine gute Nachricht für den digitalen Kanal, wenn es darum geht, langfristig Bekanntheit und Markenvertrauen aufzubauen. Online ist spannend, schnell, effizient, aber auch flüchtig und unbeständig.

Wir wissen heute, dass digitale Kontakte qualitativ hinter der markenbildenden Wirkung klassischer Medien deutlich abfallen – auch wenn wir seit 10 Jahren unablässig etwas anderes gepredigt bekommen. In diesem digitalen Rausch werden viele Mediabudgets zu stark aus klassischen und Below-the-Line-Kanälen abgezogen. Schon allein das Wort „digital“ reicht aus, um die Budgetschleusen zu öffnen. Doch das digitale Heilsversprechen bekommt langsam Risse. Man kann eben nicht einfach Kontaktkanäle mit anderen Kanälen ersetzen. Die qualitative Wirkung muss bei der Kanalwahl berücksichtigt werden. Procter & Gamble hat beispielsweise vor im Herbst 2017 über 100 Millionen aus seinen Online-Kanälen abgezogen und nach sechs Monaten das Ergebnis analysiert. Was hatte sich am PoS getan? Nichts! Was hat sich an den Marken-KPIs geändert? Auch nichts! Wie wertvoll die meisten Werbeklicks wirklich sind, wurde kürzlich durch ein cleveres Experiment klar. Ein weißes Quadrat wurde als Internetanzeige geschaltet. Das Ergebnis: Die gleiche durchschnittliche Menge an Klicks wie bei einer echten Display-Ad-Kampagne. Das zeigt, dass Klicks häufig zufällig entstehen, weil die Nutzer einfach das Kreuz zum Schließen nicht richtig treffen. Millionen Klicks bedeuten halt nicht nicht automatisch Millionen Umsätze. Hinzu kommen die Probleme von Betrug und Brand-Safety. Der digitale Kanal bleibt trotzdem wertvoll für bestimmte taktische Ziele, wurde aber in den letzten Jahren eindeutig überbewertet.

Häufig wird einfach in der Begeisterung über die Messbarkeit und die vertriebliche Konversionskraft vergessen, dass der digitale Kanal vom Baum des Markenvertrauens pflückt, aber wenig zur Stärkung seiner Wurzeln beiträgt. Jeder Landwirt weiß, was langfristig mit seinen Obstbäumen passiert, wenn er sie nicht pflegt. Brandmanager sind aber überrascht, wenn Studien zeigen, dass es Verbraucher bei 74% der Marken mittlerweile egal ist, wenn sie verschwinden würden. Die zu starke Verlagerung von Werbeinvestitionen in digitale Kanäle ist eine der Gründe für diese nachlassende Markenstärke.

Sprechen die Schwächen des digitalen dann nicht für eine Renaissance von Print?
Hartmann: Ja, unter Anderem. Insbesondere für Premiummarken gilt das. Werbung in Print geniesst mit Abstand die höchste Akzeptanz – Über 600 Millionen installierte Adblocker zeigen hingegen deutlich, wie sympathisch die Menschen Onlinewerbung finden. Diese Werbeverweigerer sind die Gelbwesten des Internets. Darüber hinaus ist Print einer der wenigen Kanäle, der alle unsere Sinne bedienen kann. Unser Gehirn liebt Print.

Ein deutscher Autohersteller musste kürzlich schmerzlich erfahren, dass Print nicht einfach digital ersetzbar ist. Er bewarb ein neues Modell für eine junge Zielgruppe ausschließlich online, ohne jegliche Verkaufsliteratur. Ohne Prospekt standen die Händler jedoch ziemlich hilflos da. Auch Millenials wollen ein handfestes, hochwertiges Prospekt nach der Probefahrt mit nach Hause nehmen, bevor sie 34.000 Euro für ein Auto ausgeben. Eine Umfrage im Anschluss ergab, dass sich 87 Prozent aller Händler weltweit beim nächsten Launch wieder Print zur Verkaufsunterstützung wünschen. Das besagt aber nicht, dass digitale Maßnahmen sinnlos sind. Crossmedia ist Trumpf! In einer internationalen Studie zeigte sich, dass crossmediale Kampagnen mit jedem zusätzlichen Kanal ohne Ausweitung des Budgets bis zu 35 Prozent mehr ROI erzeugen. Dabei strahlt aber insbesondere Print positiv auf die Effektivität aller anderen Kanäle ab. Es wird also höchste Zeit nach dem digitalen Rausch der letzten Jahre wieder einen objektiven, wirkungsfokussierten Blick zu entwickeln.

Welche zentralen Erkenntnisse liefert die Neurowissenschaft für die Markenkommunikation? Und ist „Neuro“ nicht einfach ein weiterer Trend?
Hartmann: Der Einfluss der Neurowissenschaft auf das Marketing ist kein Trend, sondern eine logische Konsequenz. Nach dem Abklingen des ersten Hypes rund um die völlig abwegige Suche nach dem Kaufknopf im Gehirn, kommen nach 10 Jahren viele wertvolle Erkenntnisse in der Marketingpraxis an. Dazu gehört zum Beispiel ein besseres Markencode-Management. Denn hier wird sehr viel Geld verschwendet: Die Positionierung der Marke muss in der Kommunikation über wiedererkennbare Codes für die Zielgruppe verständlich werden. Das gelingt aber häufig nicht.

In einer Studie ordnete die meisten Teilnehmer die vorgelegten Werbemittel mit abgedecktem Markenlogo entweder keiner oder einer falschen Marke zu. Die von den Werbemitteln gesendeten Codes aktivierten im Gehirn also entweder keinerlei Markenassoziationen oder jene der Konkurrenz. Hier leisten neurowissenschaftliche Messmethoden wertvolle Hilfe, um die richtigen Codes zu finden und die unpassenden erkennen. Sie verkürzen damit die endlosen Geschmacksdiskussionen zur kreativen Umsetzung. Es lässt sich so klar sagen, wie „Energie“, „Frische“ oder „Geborgenheit“ am PoS oder in einem TV-Spot aussieht und klingt, wie sich die Verpackung anfühlen sollte und welche der möglichen Umsetzungen den höchsten Brand-Fit haben.

Das ist mit klassischer, expliziter Marktforschung nicht möglich. Eine zentrale Erkenntnis der Neurowissenschaften ist, dass unser Gehirn mit zwei Systemen arbeitet. Dem expliziten, bewussten System, dass ungefähr 40 Bits pro Sekunde verarbeitet und dem impliziten, das rund 11 Millionen Bits pro Sekunde verdauen kann. Die Bedeutung eines Signals wird immer zuerst von unserem impliziten System decodiert. Markencodes entfalten ihre Wirkung auch dort. Deshalb macht es einfach keinen Sinn, die Menschen über die Bekanntheit einer Marke hinaus explizit zur assoziativen Wirkung von Kommunikation zu befragen. Implizite Messungen, bei denen beispielsweise Reaktionszeiten erfasst werden, ermöglichen es hingegen präzise zu bestimmen, mit welchen Assoziationen das Gehirn mehr oder weniger Mühe hat. So wird die Bedeutung von Codes sowie deren Assoziationsstärke messbar.

Auch die bildgebenden Verfahren sind wertvoll. Sie ermöglichen uns beispielsweise die Aktivierung des Schmerzsystems im Gehirn bei unterschiedlicher Preisgestaltung zu beobachten. All das hat weitreichende Konsequenzen für das Marketing. Wir haben in den letzten 10 Jahren mehr über das Gehirn gelernt als in den 100 Jahren zuvor. Doch die wissenschaftliche Basis vieler Modelle der Markenführung und Marktforschung sind deutlich älter als 10 Jahre. Hier müssen die dahinter liegenden mentalen Modelle kritisch hinterfragt und die Entscheidungsgrundlagen aktualisiert werden.

Die Erkenntnisse der Neurowissenschaften werden deshalb immer mehr Einfluss auf das Marketing gewinnen. Das Gehirn ist und bleibt die letzte Instanz in der Marketingmaßnahmen ihre Wirkungen entfalten müssen. Der berühmte Designer und Markenpionier Walter Landor brachte es vor langer Zeit bereits gut auf den Punkt: Produkte werden in Fabriken hergestellt, Marken in Köpfen. Die Neurowissenschaften und die moderne Psychologie wissen mehr als alle anderen Disziplinen, was in unseren Köpfen passiert und bieten deshalb zusammen mit dem Erfahrungswissen und der Urteilskraft erfahrener Markenstrategen und Kreativen eine belastbare Basis für erfolgreichere Markenpositionierungen und effektivere Markenkommunikation.

Vita:

Olaf Hartmann ist Geschäftsführer des Multisense Instituts, Markenberater und Gründer der Agentur Touchmore. Zusammen mit dem Psychologen Sebastian Haupt schuf er das ARIVA-Modell zur sensorischen Optimierung von Produkten, Kommunikation und Verkaufsprozessen und beschrieb in dem Marketing Fachbuch „Touch“ erstmals den Haptik-Effekt im multisensorischen Marketing. Hartmann begann seine Karriere in der internationalen Werbung der Bayer AG, war sieben Jahre lang Referent am Institut für Betriebswirtschaft der Universität Sankt Gallen und ist seit 2009 Mitglied in der Gesellschaft zur Erforschung des Markenwesens.